Der Obdachlose, der in unserer Behindertentoilette wohnt…

Wir haben nicht nur eine psychosomatische Tagesklinik in unserem Haus, sondern neuerdings auch einen Mitbewohner. Würden wir auf einem Kreuzfahrtschiff leben, wäre der Mann als blinder Passagier zu bezeichnen. Gibt es einen Begriff für heimliche Bewohner von Gebäuden? Obwohl heimlich die friedliche Koexistenz nicht treffend beschreibt. Denn inzwischen pflegt die Hausgemeinschaft einen herzlichen Umgang mit dem Obdachlosen, der in der Behindertentoilette wohnt. Seit Neuestem lässt er sogar die Tragetaschen mit seinem Hab und Gut zur Aufbewahrung in der Arztpraxis im Erdgeschoss zurück, wenn er sein Domizil kurzfristig verlassen muss. Die beiden Damen vom Empfang widmen sich der Aufgabe mit Eifer und plädieren vehement dagegen, die alternative Nutzung der Behindertentoilette der Hausverwaltung zu melden. »Erstens wird das Klo sowieso nie benutzt und zweitens können wir den Toiletten-Gert doch bei der Kälte nicht vor die Tür setzen!«. Auch wieder wahr. Zum Dank ließ Gert gestern eine Flasche Rotkäppchen Sekt springen, die er natürlich allein trinken musste. Alkohol in der Praxis gibt es nur an Karneval; apropos…klar das Toiletten-Gert bei der hausinternen Feier nicht fehlen darf. Seine jecke Einladung steckt schon hinter dem Handtuchspender…

Spieglein, Spieglein,…

„Und wie sehe ich aus?“, fragt die Brünette mit den dunklen Ringen unter den Augen zweifelnd, als ich den Aufzug betrete. Sie studiert ihre desolate Erscheinung kritisch im Spiegel des Fahrstuhls.

„Gut,“ lügt ihre dralle Freundin. Ich beobachte die beiden verstohlen aus den Augenwinkeln. Wieder zwei Patientinnen aus der psychosomatischen Tagesklinik in der fünften Etage, erkenne ich unschwer. Unsere Dachgeschosswohnung befindet sich nur zwei Stockwerke über der Praxis.

„Echt?“, bohrt die Erste weiter. Sie versucht verzweifelt, Façon in ihre fettigen Haare zu kneten. Sie erinnert mich an ein gerupftes Huhn. Ich verkneife mir ein Grinsen.

„Ja, doch,“ murmelt die Zweite genervt und verdreht die Augen in meine Richtung. Ich schaue möglichst unbeteiligt zur Seite.

„Das habe ich genau gesehen,“ kreischt die zerzauste Frau und lamentiert weinerlich „Du belügst mich.“ Ihre dralle Freundin seufzt vernehmlich. Ich tue so, als sei ich nicht da. Das Lachen kann ich mir allerdings kaum noch aus dem Gesicht wischen.

„Was soll ich denn machen?“, mault sie. „Wenn ich Dir sage, dass Du scheiße aussiehst, kriegst Du sofort wieder Depressionen und die ganze Therapie ist für die Katz´.“ Ich pruste laut los und flüchte mich nach draußen, da sich zum Glück in diesem Moment die Fahrstuhltüren öffnen.

Erstausstrahlung und andere Visionen

Omin klemmte die Mappe mit der Presseerklärung unter den Arm und eilte neben Dr. Sommergran zur Pressekonferenz. Sie hatte den Saal nach strengen Anweisungen vorbereitet, Laptop und Beamer selbst überprüft. Die Präsentation enthielt keinerlei Animationen. Der Vorstandsvorsitzende der Haksa-Versicherungsgruppe hasste es, wenn einfliegende oder rotierende Bildchen und blinkenden Pfeile von seinen Vorträgen ablenkten. Was er zu sagen hatte, war zu gehaltvoll, um von debilen Softwaregadgets abgeschwächt zu werden. Der Umgang mit Dr. Sommergran bedeutete für seine Mitarbeiter einen Drahtseilakt. Als Pressesprecherin des Versicherungsgiganten hatte Omin so manche Klippe umschifft. Schon rein sprachlich stellte ihr Job eine Herausforderung dar, denn Anglizismen untersagte der Konzernchefs ebenfalls; und zwar nicht nur in seiner Gegenwart. Neu-deutsche Wortkreationen duldete in keinerlei öffentlichen Verlautbarungen. Der unternehmerische Auftrag der Haksa-Versicherung durfte keinesfalls als Unternehmensmission betitelt werden. Und Gott bewahre Dr. Sommergran vor der Publikation einer Unternehmensvision. Eine Vision nämlich bezeichnet laut Duden eine religiöse Erscheinung und gehört mitnichten in die Geschäftswelt eines weltweit agierenden Konzerns. Die Vertreter der Presse erhielten genaueste Instruktionen. Sie warteten hinter der schweren Eichentür des Konferenzsaals, auf die Omin im Gefolge der Vorstandsvorsitzenden zusteuerte. Sie konnte nur beten, dass sich alle Journalisten an die Spielregeln hielten, die sie ausgegeben hatte. Ihre Hoffnung starb, als sie einen Reporter erblickte, der mit einem Kameramann auf sie zutrat, statt im Saal zu warten. Omin blinzelte nervös und fürchtete für einen Moment selbst, einer Erscheinung zu erliegen. Doch der Mann, der sich jetzt vor ihr aufbaute, war leider keine Fata Morgana. Sie kannte ihn. Vor ihr stand Gack. Sie hatte sich zuletzt in Rom gesehen. Genauer gesagt, hatte sie ihn in einem Hotel nahe der Spanischen Treppe sitzen gelassen. Sie war aus der Stadt, aus dem gemeinsamen Zimmer und seinem Leben verschwunden. Zugegeben dieses Ereignis gehörte zu einer weniger guten Lebensphase. Ihr langjähriger Verlobter hatte sie verlassen. Sie hatte sich bei Gack ausgeheult, der schon seit der Schulzeit in sie verliebt gewesen war, und flog kurzentschlossen mit ihm während der Semesterferien nach Rom. Das Ablenkungsmanöver war von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Im Prinzip hatte sie die gesamte Reise über nur geheult und ihren Frust an Gack ausgelassen. Er ging ihr tierisch auf die Nerven. Egal was er sagte, tat oder eben nicht sagte oder tat, brachte sie zur Weisglut. Er lieh das falsche Auto (viel zu gelb), wählte das falsche Hotel (viel zu teuer) und hatte zu gute Laune (obwohl das Wetter beschissen war). Es war der berühmte Wassertropfen, der das sprichwörtliche Fass überlaufen lies. Jedes Mal, wenn dieser Vollidiot duschte, überschwemmte er das komplette Bad. Sie hatte ihn gewarnt.

»Ich bringe Dich um, falls der Boden wieder nass ist« hatte sie an dem letzten gemeinsamen Nachmittag gedroht, als sie auf Strümpfen das Bad betrat. Sekunden später setzte sie ihn wutentbrannt vor die Tür. Während Gack wahrscheinlich an der Piazza D´Espagna einen Cappuccino trank und auf bessere Stimmung hoffte, tobte sie hysterisch durchs Hotelzimmer. Sie hatte die Schnauze endgültig voll. Sie warf die durchnässten Socken zusammen mit ihren übrigen Klamotten in den Koffer und flog nach Hause.

Gack war also tatsächlich Journalist geworden. Sie blinzelte in die Kamera. Natürlich, hatte er versucht, sie telefonisch zu erreichen. Aber sie tat ihm nicht den Gefallen, seine Anrufe zu beantworten. Das war vor acht Jahren.