Der Obdachlose, der in unserer Behindertentoilette wohnt…

Wir haben nicht nur eine psychosomatische Tagesklinik in unserem Haus, sondern neuerdings auch einen Mitbewohner. Würden wir auf einem Kreuzfahrtschiff leben, wäre der Mann als blinder Passagier zu bezeichnen. Gibt es einen Begriff für heimliche Bewohner von Gebäuden? Obwohl heimlich die friedliche Koexistenz nicht treffend beschreibt. Denn inzwischen pflegt die Hausgemeinschaft einen herzlichen Umgang mit dem Obdachlosen, der in der Behindertentoilette wohnt. Seit Neuestem lässt er sogar die Tragetaschen mit seinem Hab und Gut zur Aufbewahrung in der Arztpraxis im Erdgeschoss zurück, wenn er sein Domizil kurzfristig verlassen muss. Die beiden Damen vom Empfang widmen sich der Aufgabe mit Eifer und plädieren vehement dagegen, die alternative Nutzung der Behindertentoilette der Hausverwaltung zu melden. »Erstens wird das Klo sowieso nie benutzt und zweitens können wir den Toiletten-Gert doch bei der Kälte nicht vor die Tür setzen!«. Auch wieder wahr. Zum Dank ließ Gert gestern eine Flasche Rotkäppchen Sekt springen, die er natürlich allein trinken musste. Alkohol in der Praxis gibt es nur an Karneval; apropos…klar das Toiletten-Gert bei der hausinternen Feier nicht fehlen darf. Seine jecke Einladung steckt schon hinter dem Handtuchspender…

Spieglein, Spieglein,…

„Und wie sehe ich aus?“, fragt die Brünette mit den dunklen Ringen unter den Augen zweifelnd, als ich den Aufzug betrete. Sie studiert ihre desolate Erscheinung kritisch im Spiegel des Fahrstuhls.

„Gut,“ lügt ihre dralle Freundin. Ich beobachte die beiden verstohlen aus den Augenwinkeln. Wieder zwei Patientinnen aus der psychosomatischen Tagesklinik in der fünften Etage, erkenne ich unschwer. Unsere Dachgeschosswohnung befindet sich nur zwei Stockwerke über der Praxis.

„Echt?“, bohrt die Erste weiter. Sie versucht verzweifelt, Façon in ihre fettigen Haare zu kneten. Sie erinnert mich an ein gerupftes Huhn. Ich verkneife mir ein Grinsen.

„Ja, doch,“ murmelt die Zweite genervt und verdreht die Augen in meine Richtung. Ich schaue möglichst unbeteiligt zur Seite.

„Das habe ich genau gesehen,“ kreischt die zerzauste Frau und lamentiert weinerlich „Du belügst mich.“ Ihre dralle Freundin seufzt vernehmlich. Ich tue so, als sei ich nicht da. Das Lachen kann ich mir allerdings kaum noch aus dem Gesicht wischen.

„Was soll ich denn machen?“, mault sie. „Wenn ich Dir sage, dass Du scheiße aussiehst, kriegst Du sofort wieder Depressionen und die ganze Therapie ist für die Katz´.“ Ich pruste laut los und flüchte mich nach draußen, da sich zum Glück in diesem Moment die Fahrstuhltüren öffnen.

Erstausstrahlung und andere Visionen

Omin klemmte die Mappe mit der Presseerklärung unter den Arm und eilte neben Dr. Sommergran zur Pressekonferenz. Sie hatte den Saal nach strengen Anweisungen vorbereitet, Laptop und Beamer selbst überprüft. Die Präsentation enthielt keinerlei Animationen. Der Vorstandsvorsitzende der Haksa-Versicherungsgruppe hasste es, wenn einfliegende oder rotierende Bildchen und blinkenden Pfeile von seinen Vorträgen ablenkten. Was er zu sagen hatte, war zu gehaltvoll, um von debilen Softwaregadgets abgeschwächt zu werden. Der Umgang mit Dr. Sommergran bedeutete für seine Mitarbeiter einen Drahtseilakt. Als Pressesprecherin des Versicherungsgiganten hatte Omin so manche Klippe umschifft. Schon rein sprachlich stellte ihr Job eine Herausforderung dar, denn Anglizismen untersagte der Konzernchefs ebenfalls; und zwar nicht nur in seiner Gegenwart. Neu-deutsche Wortkreationen duldete in keinerlei öffentlichen Verlautbarungen. Der unternehmerische Auftrag der Haksa-Versicherung durfte keinesfalls als Unternehmensmission betitelt werden. Und Gott bewahre Dr. Sommergran vor der Publikation einer Unternehmensvision. Eine Vision nämlich bezeichnet laut Duden eine religiöse Erscheinung und gehört mitnichten in die Geschäftswelt eines weltweit agierenden Konzerns. Die Vertreter der Presse erhielten genaueste Instruktionen. Sie warteten hinter der schweren Eichentür des Konferenzsaals, auf die Omin im Gefolge der Vorstandsvorsitzenden zusteuerte. Sie konnte nur beten, dass sich alle Journalisten an die Spielregeln hielten, die sie ausgegeben hatte. Ihre Hoffnung starb, als sie einen Reporter erblickte, der mit einem Kameramann auf sie zutrat, statt im Saal zu warten. Omin blinzelte nervös und fürchtete für einen Moment selbst, einer Erscheinung zu erliegen. Doch der Mann, der sich jetzt vor ihr aufbaute, war leider keine Fata Morgana. Sie kannte ihn. Vor ihr stand Gack. Sie hatte sich zuletzt in Rom gesehen. Genauer gesagt, hatte sie ihn in einem Hotel nahe der Spanischen Treppe sitzen gelassen. Sie war aus der Stadt, aus dem gemeinsamen Zimmer und seinem Leben verschwunden. Zugegeben dieses Ereignis gehörte zu einer weniger guten Lebensphase. Ihr langjähriger Verlobter hatte sie verlassen. Sie hatte sich bei Gack ausgeheult, der schon seit der Schulzeit in sie verliebt gewesen war, und flog kurzentschlossen mit ihm während der Semesterferien nach Rom. Das Ablenkungsmanöver war von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Im Prinzip hatte sie die gesamte Reise über nur geheult und ihren Frust an Gack ausgelassen. Er ging ihr tierisch auf die Nerven. Egal was er sagte, tat oder eben nicht sagte oder tat, brachte sie zur Weisglut. Er lieh das falsche Auto (viel zu gelb), wählte das falsche Hotel (viel zu teuer) und hatte zu gute Laune (obwohl das Wetter beschissen war). Es war der berühmte Wassertropfen, der das sprichwörtliche Fass überlaufen lies. Jedes Mal, wenn dieser Vollidiot duschte, überschwemmte er das komplette Bad. Sie hatte ihn gewarnt.

»Ich bringe Dich um, falls der Boden wieder nass ist« hatte sie an dem letzten gemeinsamen Nachmittag gedroht, als sie auf Strümpfen das Bad betrat. Sekunden später setzte sie ihn wutentbrannt vor die Tür. Während Gack wahrscheinlich an der Piazza D´Espagna einen Cappuccino trank und auf bessere Stimmung hoffte, tobte sie hysterisch durchs Hotelzimmer. Sie hatte die Schnauze endgültig voll. Sie warf die durchnässten Socken zusammen mit ihren übrigen Klamotten in den Koffer und flog nach Hause.

Gack war also tatsächlich Journalist geworden. Sie blinzelte in die Kamera. Natürlich, hatte er versucht, sie telefonisch zu erreichen. Aber sie tat ihm nicht den Gefallen, seine Anrufe zu beantworten. Das war vor acht Jahren.

Schult und Zühne

Jetzt lebe ich schon lange Jahre in Hessen und falle immer noch auf die sprachlichen Tücken dieser Region hinein. Lange vorbei sind die Jahre, als ich mich auf einer Beerdigung darüber mokierte, dass der Pfarrer von sich behauptete, er bekleide Menschen bis in den Tod. Hielt sich der Gottesmann für einen Designer? Wohl kaum. Natürlich begleitet er Menschen bis in den Tod, konnte es nur nicht richtig artikulieren. Wie viele Bewohner dieses Landstriches, spricht er weiche Konsonanten hart aus und umgekehrt. In Hessen sind die Straße klatt, die Menschen haben Propleme und gehen in die Kirsche. Normalerweise transformiere ich die sinnentfremdete Bedeutung solcher Worte gekonnt. Auch ergänze ich routiniert das fehlende »R«, wenn ich zum Beispiel Freunde im nächsten Ott auf den Mackt treffen soll. Doch manchmal tappe ich eben doch noch in die Falle:

Man mag sich mein Staunen vorstellen, als mir ein Bekannter im Sommer erzählte, er habe sich eine Seidenmakise geleistet. Ich erkannte sofort, dass es sich um den Erwerb einer Markise handelte. Fragte mich aber, ob Seide nicht sehr teuer und als Material überhaupt für eine Markise geeignet sei. Der Bekannte fühlte sich aufgrund meiner detaillierten Nachfragen geschmeichelt.

„So besonders ist eine Seidenmarkise nun auch wieder nicht,“ wiegelte er bescheiden ab.

„Aber warum hast Du sie dann gekauft?“, wollte ich wissen.

„Na, wenn der Wind von Ecke pfeift, dann sitzt man auf unserer Terrasse immer so ungemütlich.“

Da erst verstand ich, dass er sich eine Seitenmarkise zugelegt hatte.

Kurz vor dem Jahreswechsel passierte es dann erneut. Wir hatten unserer Nachbarin mit Milch und Eiern ausgeholfen, die ihr zum Backen gefehlt hatten. Als sie am nächsten Tag vom Einkaufen kam, brachte sie uns Ersatz für die geliehenen Zutaten und sagte:

„Ich gehe nicht mit Schulten ins neue Jahr?“

„Ach,“ wunderte ich mich. „Ich dachte, ihr feierst mit Deiner Schwester.“

Sommerbereifung

sommerbereifungSeid ihr auch schonmal an einem Flughafen gestanden und dann in einer absurde Situation gelandet? Unverhofft, kommt eben oft…

Paris, Frankreich, 2008

Zum Flughafen Charles de Gaulle hatten sie es immerhin geschafft, das war ein Schritt in die richtige Richtung. Marie wollte unbedingt nach Hause und verspürte keinerlei Lust auf eine weitere Nacht in Paris. Als freie Journalistin war sie in der französischen Hauptstadt gewesen, um für „die Kunstzeitung“ über die Ausstellung „Kunst, Film & Politik“ von Dario Azzellini zu berichten. Als es während der Ausstellungseröffnung im Centre Pompidou zu schneien begann, wusste sie sofort, dass schnelles Handeln gefordert war. Wenn in Paris Schnee fiel, brach der Verkehr binnen kürzester Zeit komplett zusammen. Sie hatte häufig genug erlebt, dass Taxis und Busse ihren Betrieb bereits bei leichtem Schneefall einstellten. Jetzt aber schneite es schon seit zwei Stunden kräftig und anhaltend, daher war die Suche nach einem Taxi sinnlos. Stattdessen versuchte sie, möglichst rasch, also am besten zu Fuß, zur Metrostation Chatelêt-Les Halles zu gelangen und von dort mit der RER B zum Flughafen Charles de Gaulle zu fahren. Die Metro-Station Rambuteau lag zwar näher zum Centre Pompidou, aber hier hielt nur die Linie 11 und somit müsste Marie in Chatelêt in die RER B umsteigen. Da sie mit überfüllten Metros rechnete, wollte sie sich das Umsteigemanöver lieber ersparen.

Eine Journalistin aus Australien schloss sich ihr an. Samantha arbeitete zum ersten Mal in Paris, kannte sich weder in der Stadt noch mit dem Metro-System aus und hoffte, im Schlepptau von Marie sicher durch das Verkehrschaos zum Flughafen zu gelangen. Sie stammte von der sonnenverwöhnten Westküste des fünften Kontinents. Schnee hatte sie bisher nur in Fernsehberichten gesehen. Kaum betrat sie mit ihren hellen, eleganten Wildlederstiefeln den schneebedeckten Platz vor dem Centre Pompidou, rutschte sie aus und fiel der Länge nach in den Schneematsch. Marie ließ der fassungslosen Samantha keine Zeit, die Flecken auf ihrem Kaschmirmantel zu bedauern. Als sie sich mit ihren Koffern durch das dichte Weiß zur Metrostation Chatelêt-Les-Halles durchgekämpft hatten, waren auch Maries robuste Stiefel völlig durchnässt. Die RER war erwartungsgemäß hoffnungslos überfüllt. Erleichtert schafften es die beiden Journalistinnen, sich in einen Wagon zu quetschen und diesen schwitzend und zerzaust an der Haltestelle zu Terminal 2 des Flughafens Charles de Gaulle wieder zu verlassen. Samantha flog mit Qantas von Halle 2E über Singapur nach Sydney, Marie mit Air France von Abflughalle 2F nach Frankfurt. Nach einem endlosen Fußweg über Rolltreppen und -bänder erreichten sie endlich Terminal 2. Dort teilten sich die Wege zu ihren jeweiligen Gates. Sie verabschiedeten sich hastig und wünschten sich „Good luck“, in der Hoffnung, dass ihre Flüge nicht wegen des starken Schneefalls annulliert werden würden.

Inzwischen waren nicht nur Maries Stiefel nass und kalt, sondern auch ihre Strümpfe und Füße. Mehrere Abflüge waren bereits gestrichen worden, aber der Flug um 20.15 Uhr nach Frankfurt stand neben wenigen anderen noch an der Abflugtafel. Marie atmete erleichtert auf. Die mit 23.30 Uhr deutlich verspätete Abflugzeit störte sie in dieser Situation ausnahmsweise kaum. Sie richtete sich mit Sandwiches und schwarzem Tee auf eine längere Wartezeit ein. Die Vorräte des Kiosks in der Abflughalle gingen allmählich zur Neige. Die Wartehalle war nicht geheizt und unverschämt zugig. Marie trug inzwischen fast alle Kleidungsstücke, die sich in ihrem Koffer befunden hatten, am Körper. Warm wurde ihr trotzdem nicht. Um 21.00 Uhr telefonierte sie mit ihrer Redaktion.

„An deiner Stelle hätte ich keine große Hoffnung, dass du heute noch aus Paris wegkommst. Bei n-tv läuft über den Ticker, dass die Airports in Amsterdam, Brüssel und Frankfurt geschlossen sind. Am Flughafen Rhein-Main werden bereits Decken verteilt und Feldbetten für die gestrandeten Fluggäste aufgestellt“, erklärte ihr Kollege. Marie traute ihren Ohren nicht. „Das ist mal wieder typisch für die französische Aufklärungspolitik“, schimpfte sie ins Telefon. „Während in den Nachbarländern Notfallpläne greifen, stehen wir hier ohne Informationen.“ Sie schnaubte verächtlich. „Ach, warum ärgere ich mich überhaupt.“ Sie hatte direkt bei ihrer Ankunft in Charles de Gaulle und erneut vor zirka einer halben Stunde am Air-France-Schalter nachgefragt, ob der Flug nach Frankfurt tatsächlich heute gehen würde. Selbst für ihre auf frankophone Zwischentöne geschulten Ohren hatten sich die Beteuerungen des Bodenpersonals glaubwürdig angehört. Sie begab sich abermals zum Air-France-Counter und forderte resolut: „Erzählen Sie mir keine Märchen, n-tv meldet, dass der Flughafen in Frankfurt geschlossen ist.“ Die Air France-Dame gab sich mit einem fatalistischen Lächeln geschlagen: „Je suis désolée.“ Marie seufzte und verkniff sich die Frage, wann genau die wartenden Passagiere darüber informiert werden sollten. Stattdessen richtete sie ihren Blick nach vorne:

„Bon, seien wir realistisch. Bringen Sie uns in Hotels unter?“

„Mais, Madame, es gibt keine freien Hotelzimmer im Umkreis von 70 Kilometern!“ Das Air-France-Hütchen auf dem Kopf der Dame schaukelt bedauernd hin und her. Marie konnte ihren Ärger nur schwer verbergen. Vor drei Stunden hätte es wahrscheinlich noch eine Chance auf freie Unterkünfte gegeben.

„Alors, was gedenken Sie zu tun?“, fragte sie sarkastisch. Vor ihrem geistigen Auge verwandelt sich die Wartehalle 2F des Flughafen Charles de Gaulle in ein Feldbettenlager. Die Air-France-Dame zeigte sich sichtlich genervt von Maries impertinentem Informationsdurst, fühlte sich aber zu einer lahmen Antwort genötigt. „Falls – ich betone – falls es unser Versorgungsbus bis hierher schafft, was naturellement nicht sehr wahrscheinlich ist“, sie bedachte Marie mit einem schulmeisterlichen Blick, „dann werden wir eventuell Decken verteilen.“

„Vive la Trance!“ Marie verdrehte die Augen und verließ ohne ein weiteres Wort den Air-France-Schalter. Inzwischen war es 22 Uhr. Sie überlegte fieberhaft; wenn sie die Nacht in der zugigen Abflughalle verbrächte, bekäme sie eine Lungenentzündung. Davon war sie überzeugt, so durchgefroren, wie sie sich fühlte. Ein Mietwagen! Das war die Lösung. Ein Auto hätte weiche Sitze und dort könnte sie wenigstens die Heizung aufdrehen. Leider war sie zu müde, um die 500 Kilometer nach Frankfurt allein durchzufahren. Sie blickte verstohlen zu den anderen Fluggästen, die hoffnungsfroh auf den Flug in die Mainmetropole warteten. „Haben Sie Interesse, sich mit mir einen Leihwagen zu nehmen und nach Frankfurt zu fahren?“ Die meisten Passagiere hielten Marie für verrückt und brachten das deutlich zum Ausdruck. Sie wollten partout nicht glauben, dass der Flug gestrichen war.

„Aber dann hätte man uns doch informiert!“, belächelten sie Marie mitleidig. Unbeirrt fragte sie weiter. Zwei Männer sagten tatsächlich zu. Kim, ein Koreaner, wohnte wie Marie in Frankfurt. Er war bei Kia beschäftigt. Trygve war Norweger mit hervorragenden Deutschkenntnissen, denn seine Mutter war Deutsche. Er lebte in Oslo, war Cellist und hatte ein Engagement an der Alten Oper in Frankfurt. Gemeinsam eilten sie zu den Mietwagenschaltern. Alle Autoverleihfirmen außer Avis hatten bereits geschlossen. Die Dame am Avis-Schalter wollte ihnen zunächst kein Auto vermieten. „Wir haben nur noch zwei Autos mit Sommerreifen. Die kann ich unmöglich herausgeben.“

„Welche Marken?“, erkundigte sich Kim.

Die Avis-Dame schaute verwirrt. Sie hatte sich doch klar ausgedrückt: „Ich kann Sie keinesfalls bei diesen Wetterbedingungen ohne Winterreifen auf die Straße lassen.“

„Wir fahren auf eigene Gefahr“, versicherte Kim knapp. Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Er fragte nochmals, diesmal energischer: „Welche Marken sind verfügbar?“ Die Avis-Dame zögerte: „Ein 3er-BMW und ein Fiat Punto.“

Kim erklärte kurzerhand: „Wir nehmen den Fiat.“

Nachdem sie die Papiere unterschrieben hatten, erkundigte sich Marie bei der Avis-Dame ohne große Hoffnung, ob noch ein Navigationsgerät vorrätig wäre. Während die Avis-Dame bedauernd verneinte, zogen Kim und Trygve im gleichen Moment, wie auf Kommando und in Sekundenschnelle, jeweils ein GPS-Gerät aus ihren Aktentaschen. Verwundert registriert Marie, dass „Mann“ offensichtlich mit Navigationssystem auf Reisen ging.

Im Kofferraum des Punto gab es kaum Platz für das Handgepäck. Zum Glück reiste Trygve ohne sein Instrument. Kim bot an, die erste Strecke als Fahrer zu übernehmen. Trygve installierte vom Beifahrersitz aus nach einem kurzen Fachgeplänkel mit Kim sein viel besseres, weil der neuesten Generation entstammendes, Navigationsgerät. Marie machte es sich derweil auf dem Rücksitz bequem. Zufrieden stellte sie fest, dass die Rückbank deutlich bequemer war als die harten Plastikstühle in der Wartehalle des Flughafens Charles de Gaulle. Schlimmer als dort konnte es heute gewiss nicht mehr werden.

„Bist du sicher, dass wir mit dieser gummibereiften Kasperlebühne bei den Schneemassen überhaupt vorwärtskommen?“, kam es skeptisch vom Beifahrersitz. Kim lachte nur, gab Gas und befuhr sorglos die verschneite Rampe vom Parkhaus zum Flughafenring. Marie und Trygve verfolgten fasziniert, wie Kim den Fiat mit absoluter Sicherheit an den querstehenden Bussen, Autos und Lastwagen vorbei steuerte, die sich im Gegensatz zu ihnen in Schneewehen festgefahren hatten.

„Die Sommerreifen scheinen besser zu sein, als ich dachte“, staunte Trygve. „Der Punto fährt ja wie auf Schienen.“ Kim lachte:

„Das Profil spielt bei dieser Witterung keine Rolle, aber der Vorderradantrieb ist von Vorteil. Deshalb wollte ich lieber den Fiat.“ Trygve war nicht überzeugt und fragte zaghaft:

„Bist du denn sicher, dass du bremsen kannst?“

„Wieso bremsen?“, wunderte sich Kim, „das Auto beschleunigt doch kaum!“ Das Klingeln von Trygves Handy durchbrach das fassungslose Schweigen im Wagen. Trygve zögerte, nahm das Gespräch nach einem gequälten Blick in die Runde aber an: „Nein, Mutti … Alles in Ordnung, Mutti … Ja, Mutti … Nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen … Ja, ich melde mich von unterwegs.“

Sechs Stunden und vier Anrufe von Mutti später hatte Kim zwei Koffeintabletten aus Maries Vorrat intus und saß auf einstimmigen Beschluss immer noch am Steuer. Bei Kaiserslautern schlängelten sie sich auf der vereisten Fahrbahn mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit rechts und links im Slalom an den querstehenden LKWs vorbei. Seit der Akku von seinem Handy den Geist aufgegeben und damit auch den von Mutti vertrieben hatte, war Trygve entspannt. Marie döste ebenfalls sorglos auf der Rückbank. Die beiden genossen ihre Höllenfahrt regelrecht, seit sie wussten, dass Kim semi-professionell Tourenwagenmeisterschaften fuhr und in dieser Saison seinen Titel beim Kia Lotus Cup in Polen erfolgreich verteidigt hatte. Sie erreichten den Frankfurter Flughafen Stunden, bevor die erste Maschine in Paris abhob.

Hat Dir die Geschichte gefallen? Mehr davon gibt es im Roman „Huhnquerruder“ von Yasmin Alinaghi, der als Taschenbuch und als Kindle-Download bei Amazon erhältlich ist.

La Diana

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Wer von den älteren Semestern erinnert sich noch daran, was er/sie am Todestag von Lady Di erlebt hat. Die beiden Urlauberinnen in meiner neuen Kurzgeschichte werden im Italienurlaub von der Nachricht überrascht. Lest selbst…

Sorrent, Italien, 1997

„Was wollte der Typ von der Autovermietung denn die ganze Zeit?“ Trixi sprach kein Italienisch, daher hatte sie von der lebhaften Diskussion ihrer Freundin Dorina mit dem Angestellten der Mietwagenfirma nichts verstanden. Na ja, fast nichts; seine schmachtenden Blicke in ihre Richtung und seine wiederholten „La bella bionda“-Ausrufe hatte sie natürlich wahrgenommen. Sie war der blonde Teil des Duos. Ihre brünette Reisepartnerin hatte ihr ausführlich dargelegt, dass Italiener – leider – auf Blondinen stehen. Trixi war zum ersten Mal im Land und hatte geglaubt, dass ihre Freundin – wie so häufig – übertrieb. Jetzt beschlich sie eine Ahnung, dass Dorina in diesem Fall eher untertrieben hatte.

Dorina hieß eigentlich Doris. Zu ihrem Leidwesen lebte sie in Gelsenkirchen statt in Rom, Neapel oder Florenz. Sie war fest entschlossen, im Anschluss an ihr Abitur nach Italien zu ziehen. Daher belegte sie bereits seit der 9. Klasse die Italienisch-AG am Schalker Gymnasium. Trotz ihrer sehr guten Italienischkenntnisse konnte sie die Frage ihrer Freundin nicht beantworten und gestand:

„Keine Ahnung, was der Typ wollte. Er meinte die ganze Zeit, wir sollten auf uns aufpassen, damit es uns nicht so ergeht wie ,La Diana‘ letzte Nacht.“

„Hä? Welche Diana?“, wunderte sich Trixi.

„Das habe ich ja eben auch nicht geschnallt. Und als ich nachgefragt habe, sagte er, die Frau von Principe Carlo.“ Dorina zuckte mit den Schultern.

„Und wer ist Principe Carlo?“, fragte Trixi ratlos.

„Na Prinz Charles“, erklärte die Freundin.

„Ach so, dann meint er Lady Di“, grinste sie zufrieden.

„Aber die ist doch nicht tot“, erinnerte Dorina.

„Wieso tot? Jetzt raffe ich gar nichts mehr.“ Sie musterte ihre Freundin fragend.

„Der Typ sagte ,La Diana‘ sei tot.“

„Quatsch.“ Trixi, die die Klatschpresse kannte und liebte, winkte ab. „Die olle Camilla ist vor ein paar Tagen vom Pferd gefallen, aber die lebt noch.“

„Eben“, bekräftigte Dorina.

Inzwischen hatten die jungen Frauen den Parkplatz der Autovermietung erreicht. Sie blickten sich um und entdeckten ihren Mietwagen sofort. Es war der kleinste Wagen auf dem Stellplatz. Sie luden ihre Rucksäcke in den Kofferraum und studierten die Straßenkarte. Auf der Fahrt zu ihrem Hotel, dem Piccolo Paradiso, vergaßen sie das Rätsel um „La Diana“. Denn um unfallfrei ins Dörfchen Marina della Lobra bei Sorrent zu gelangen, mussten sie sich konzentrieren; Dorina aufs Fahren und Trixi auf das Lesen der Karte.

Am nächsten Tag lag Dorina gemütlich am Pool. Trixi hatte nur kurz etwas zu trinken holen wollen, war aber schon längere Zeit überfällig. „Wahrscheinlich verfolgt sie die Prozession“, mutmaßte Dorina. Jedenfalls schloss sie aus dem Gejaule und Geheule, das seit einigen Stunden von der Straße zur Terrasse heraufdrang, dass ein kirchlicher Umzug durch den Ort stattfand. Für diesen kleinen Ort schien ihr die Heiligenprozession zwar ungewöhnlich lang, aber der Inbrunst betender Katholiken konnte offensichtlich auch die pralle Mittagssonne nichts anhaben.

Dorina wollte ihren Durst nicht länger ignorieren. Seit Stunden hatte sich zu ihrer Verwunderung kein Kellner mehr am Pool blicken lassen. Daher schälte sie sich aus ihrem Liegestuhl und schlenderte zur Bar. Doch weder an der Bar noch im Restaurant befand sich eine Menschenseele; kein Gast, kein Kellner, keine Trixi weit und breit. Irritiert machte sie sich auf die Suche. Schließlich fand sie im Wohnzimmer der Hotelbesitzer eine Traube weinender Menschen, die wie gebannt auf den Fernseher starrten. Trixi saß tränenüberströmt mitten unter ihnen. Nach wenigen Minuten wurde Dorina endlich klar, dass der Typ von der Autovermietung recht hatte: Lady Di war tatsächlich tot. Sie war am Vorabend bei einem Autounfall in Paris ums Leben gekommen.

Rai brachte ganztägige Sondersendungen. Trotz ihrer mangelnden Sprachkenntnisse ließ sich Trixi nicht davon abbringen, täglich mehrere Stunden mit den Hotelbesitzern und -angestellten zu trauern und immer neue Berichte über den tragischen Tod von „La Diana“ im Fernsehen zu verfolgen. Zumindest behauptete sie, dass es sich um brandaktuelle Nachrichtenmeldungen handelte. Dorina war die Berichterstattung, die sich laut ihrem Empfinden wie eine Endlosschleife an Wiederholungen anfühlte, völlig schnurz. Sie besuchte Pompei, fuhr nach Capri und genoss die Sonne am Pool. Damit Trixi wenigstens etwas von Italien zu Gesicht bekam, überredete Dorina sie, ihren letzten Abend in Sorrent zu verbringen, wozu hatten sie schließlich den Mietwagen.

„So ein Mist. Der Corso Italia ist ab der nächsten Kreuzung gesperrt. Wie kommen wir jetzt zur Piazza Tasso?“ Dorina schaute fragend zu Trixi, die sich bereits über den Stadtplan von Sorrent beugte, den sie auf ihren Knien ausgebreitet hatte.

„Da vorne rechts geht eine kleine Straße rein, die Vico S. Aniello, sie führt auch auf die Piazza.“ Gesagt, getan. Sie bogen ab. Auf beiden Seiten der schmalen Gasse ragte eine etwa zwei Meter hohe Steinmauer empor. Dummerweise wurde das Sträßchen immer enger, und zwar bedenklich eng, sogar für die Ausmaße ihres winzigen Fahrzeugs. Dorina schaute in den Rückspiegel; hinter ihnen reihten sich weitere Autos, also schien das Gässchen nicht nur für Vespas und Apes befahrbar zu sein. Aber der Platz zwischen den Außenspiegeln ihres Mietwagens und der Mauer betrug nur noch wenige Zentimeter.

„Wir müssen die Seitenspiegel einklappen“, beschloss Dorina. Sie stoppte den Wagen und kurbelte die Scheibe auf ihrer Seite herunter, um den Spiegel auf der Fahrerseite einzuklappen. Trixi machte es ihr auf der Beifahrerseite nach. Ein vernehmliches Klirren ließ sie aufblicken. Sie schaute verdutzt aus dem Beifahrerfenster, dann zu ihrer Freundin und erneut aus dem Wagenfenster.

„Scheiße, der Seitenspiegel ist abgefallen“, verkündete sie tonlos. Dorina fluchte. „So ein Mist. Wir haben 500 Mark Selbstbeteiligung bei Schäden am Auto. Wenn wir die nicht latzen wollen, müssen wir den Spiegel reinholen und wieder ankleben.“ Trixi lachte hysterisch. „Leichter gesagt als getan. Die Mauer ist so nah dran, dass wir die Türen nicht öffnen können.“ Sie schaute ratlos. Dorina wurde nervös, die ersten Autos hinter ihnen begannen, ungeduldig zu hupen. Sie überlegte, während sie ihren Blick suchend durch das Auto schweifen ließ. Sie blickte nach oben.

„Ecco, das ist die Lösung“, grinste sie. „Du musst per Schiebedach raus.“ Trixi war wenig angetan, sah aber ein, dass es keine andere Möglichkeit gab, um an den vermaledeiten Seitenspiegel zu gelangen. Die Fahrer in den wartenden Autos hinter ihnen reagierten begeistert, als sich eine Blondine im roten Minikleid aus dem Autodach schlängelte. Sie angelte den Spiegel unter dem Fahrzeug hervor und tauchte, begleitet von enthusiastischem Hupen und schmachtenden „Bella-“ und „Bionda“-Rufen, mit hochroten Wangen im Auto ab.

„Sollte ich je wieder nach Italien wollen, färbe ich mir vorher die Haare dunkel“, stöhnte Trixi.

„Ich empfehle eine Mütze, die kannst du dir bei Bedarf vom Kopf reißen, falls dir dein Traummann begegnet“, lachte Dorina.

Als die Freundinnen das Auto am folgenden Morgen auf dem Parkplatz der Autovermietung abstellten, achteten sie darauf, den defekten Seitenspiegel so zu drapieren, dass er bis zur nächsten Berührung in der Halterung blieb. Am Mietwagenschalter erwartete sie derselbe Angestellte wie in der Woche zuvor. Überschwänglich begrüßte er Dorina und „La Bella Bionda“. So langsam ging Trixi das Getue um ihre Haarfarbe gehörig auf den Geist. Sie lächelte gequält. Wieder diskutierte der Mitarbeiter heftig mit ihrer Freundin. Diesmal schien es wenigstens nicht um „La Diana“ oder andere Blondinen zu gehen. Zerknirscht drehte sich Dorina zu ihr um. „Wir haben den Wagen einen Tag zu spät abgegeben.“

„Was?“ Trixi reagierte fassungslos. „Wie konnte das passieren? Wir hatten das Auto doch für eine Woche gemietet.“

„Keine Ahnung“, seufzte Dorina. „Offensichtlich hätten wir den Mietwagen gestern abgeben müssen.“

„Und jetzt?“, fragte Trixi perplex.

„Es gibt eine Lösung“, strahlte die Freundin. „Ich konnte Salvatore überzeugen, dass du enttäuscht wärest, wenn er als Italiener genauso kleinlich reagieren würde, wie die Deutschen. Immerhin geht es nur um einen läppischen Tag.“

„Aha, nur um einen läppischen Tag“, echote Trixi. „Und darauf hat sich der Typ eingelassen?“

„Der Typ heißt Salvatore“, zischte Dorina mit einem Seitenblick in seine Richtung.

„Meinetwegen.“ Trixi verdrehte die Augen.

„Und der edle Herr berechnet uns einen Tag weniger, weil ICH sonst enttäuscht wäre?“ Sie schnaubte. „Wer’s glaubt, wird selig.” Statt einer Antwort schwieg Dorina und fügte nach einer kleinen Pause hinzu:

„Und vollgetankt haben wir auch nicht.“ Trixi blickte auf ihre Uhr: „Ach, das kriegen wir vor unserem Abflug locker hin.“ Dorina klatschte erleichtert in die Hände.

„Ich hatte gehofft, dass du das sagst“, freute sie sich. „Dann lass’ uns gehen.“ Gefolgt von dem Mitarbeiter der Mietwagenfirma liefen sie zum Parkplatz. Dorinas gute Laune ließ Trixi misstrauisch werden. „Wieso habe ich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt?“ Sie schaute zu dem italienischen Angestellten, der sie immer noch anschmachtete. „Raus mit der Sprache. Was ist los?“

„Na ja“, erklärte Dorina ihrer Freundin kleinlaut. Derweil hielt ihr der Italiener galant die Fahrzeugtür auf. „Wir müssen den extra Tag nicht bezahlen, wenn …“

„… wenn was?“, fragte Trixi drohend, während sie in das Auto einstieg.

„… wenn du mit Salvatore tanken fährst“, presste Dorina schnell hervor und knallte hektisch die Autotür zu. Im gleichen Moment als der Seitenspiegel vor ihren Füßen zerschellte, gab der Angestellte Gas. Trixi explodierte vor Entrüstung und kreischte wütend aus dem Fenster: „Bei dir piept’s wohl!”

„Jetzt stell dich nicht so an”, beschwichtigte Dorina und rief laut, um die quietschenden Reifen zu übertönen. „Er will nur einmal durch die Stadt fahren und sich mit dir bei seinen Freunden zeigen.“

„Warum ausgerechnet mit mir?“, brüllte Trixi weiterhin entrüstet und mit wehenden Haaren aus dem Fenster.

„Das liegt doch auf der Hand, Blondi! Hast du es denn noch immer nicht begriffen?”

Sieh‘ da, sieh‘ da…

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Der erste Anruf heute Morgen…

„Gack-Entertainment, guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“, flötet Omin ins Telefon.

„Wir würden gern den Text Ihres Hörbuchs ‚Sieh´ da, sieh´ da, Timotheus‘ verwenden,“ verkündet eine selbstbewusste, männliche Stimme. Verwirrtes Stirnrunzeln bei Omin. Kurzes Überlegen.

„Ah, sie meinen sicher unser Kranich-Hörbuch,“ dämmert es ihr.

„Mag sein,“ nuschelt der Anrufer mürrisch. „Ein Vogel war jedenfalls vorne drauf.“

„Das Hörbuch beinhaltet jedenfalls die Kraniche des Ibykus,“ bekräftigt Omin.

„Okay…“ dringt aus langgezogen aus den Tiefen der Telefonleitung.

„Und hätten Sie etwas dagegen?“, setzt der Anrufer ungeduldig nach.

„Wogegen?“, fragt Omin um Professionalität bemüht.

„Na, dass wir den Text verwenden?“ Sie verkneift sich die Frage nach dem ‚Wir‘ und ‚Wofür‘. Der Typ wollte Sie offensichtlich verschaukeln.

„Die Ballade ist von Schiller,“ gibt Sie sich geschlagen.

„Ach!“, pflaumt sie der Anrufer empört an. „Das hätten Sie auch gleich sagen können.“ Dann setzt er freundlicher nach: „Sie hätten nicht zufällig die Telefonnummer des Herren für mich?“

So heiß, wie ein Vulkan

Soufriere Hills

Die dralle Amerikanerin nervte bereits während der mehrstündigen Führung durch Pompei mit ihren Kommentaren. Sämtliche Bemerkungen des Fremdenführers kommentierte sie entweder mit einem entsetzten »OMG« oder einem entzückten »Amazing«, aber immer lautstark. Verstanden hatte die toupierte Blondine von den Ausführungen des Guides offensichtlich nichts. Denn als ihr italienischer Verehrer seinen Blick aus ihrem imposanten Ausschnitt löst und vorschlägt, zum Krater des Vulkans aufzubrechen, verblüfft Sie ihn und jeden in Hörweite mit der erstaunten Frage. „Vesuvio, what´s that?“

Riehl-Arriba trifft Riehl-Abajo

Ein Blick ins Riehler Eck lässt mich zweifeln, ob wir hier richtig sind. In dieser versifften Kaschemme soll heute Abend Riehl Underground lesen? Doch, doch wird mir bestätigt: Die angesagten Bistros in Riehl-Arriba waren nicht am Slam Contest von Goldbeck gegen Dambowy interessiert. Einzig das Rieler-Eck in Riehl-Abajo zeigte sich offen für Kultur. Die Kneipe liegt nur wenige Meter die Straße runter, aber das Villenviertel von Riehl-Arriba scheint eine Galaxie entfernt. An der Theke hängen fünf alkoholgewöhnte Stammgäste, die sich über die ungewohnte Invasion aus Riehl-Arriba wundern. Als die steigende Zahl der Gäste den Spielautomatenbetrieb empfindlich stört, fühlt sich Stammgast Nr. 1 berufen, den Neuankömmlingen seine grundsätzliche Weltanschauung darzulegen:

„Mit studierten Arschlöchern kann ich gar nicht. Am schlimmsten sind die Pädagogen-Wixer.“

Na prima, denke ich, wahrscheinlich endet die erste Lesung von Riehl Underground in einer Schlägerei. Aber zum Glück scheinen die anwesenden Gynäkologen höher im Kurs zu stehen und der Slaming Contest kann zumindest ohne Handgreiflichkeiten beginnen. Mittlerweile hat sich eine Menschentraube vor dem Riehler-Eck gebildet und ich höre, wie eine Passantin verwundert ausruft:

„Um Himmelswillen feiert etwa jemand in dieser Spelunke eine Hochzeit? Das kann doch nicht wahr sein.“

Sie hastet weiter und verpasst ein echtes Highlight. Und damit meine ich nicht nur die Show der Kontrahenten Martin Dambowy gegen Christoph Goldbeck. Die Jungs waren echt gut, keine Frage. Das Shakespeare-Lager positioniert sich gegen das Pilsbier-Lager, die große Liebe schlägt König Fußball und die Menge fiebert mit. Nein, wirklich sensationell ist, dass die ganze Menge mitfiebert. Und zwar nicht nur die intellektuellen Spießer aus Riehl-Arriba, sondern vor allem die Stammgäste aus Riehl-Abajo. Sie lauschen gebannt, hängen an den Lippen der beiden Slamer, klatschen frenetisch Beifall und gehen voll mit. Stammkunde Nr. 2 bringt es auf den Punkt:

„So `ne Lesung ist gar nicht so scheiße langweilig, wie man immer denkt. Ich find´s super.“

Ich kann ihm nur zustimmen. Recht hat er!